Selten hat eine Bürgerfrage in einer Wahlsendung so viel Wirkung erzielt wie die von Alexander Jorde: Am 11. September konfrontierte der angehende Krankenpfleger in der ARD Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit seinem Berufsalltag. Die Würde des Menschen, laut Grundgesetz eigentlich unantastbar, werde in Wirklichkeit in Deutschland "tagtäglich tausendfach verletzt". Es gebe einfach zu wenig Pflegepersonal.
Seitdem präsentiert vor allem die SPD Vorschläge gegen den Pflegenotstand: Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert ein Lohnplus von 30 Prozent für Altenpfleger. Parteichef Martin Schulz verspricht einen "Neustart in der Pflegestruktur" binnen 100 Tagen und verbindliche Personalschlüssel - wofür sich auch Merkel einsetzen will.
Der Koblenzer Ökonom und Sozialwissenschaftler Stefan Sell befasst sich seit Jahren mit den Missständen in der Pflege. Er kritisiert, dass die Pflegemisere vor dem TV-Auftritt des Pflege-Azubis überhaupt keine Rolle im Wahlkampf gespielt habe und in den Programmen der Parteien stiefmütterlich behandelt werde. Tatsächlich finden sich dort - mit Ausnahme der Linken - kaum konkrete Forderungen, sondern eher unbestimmte Versprechen, sich des Themas anzunehmen.
Entsprechend skeptisch ist Sell, dass die Pflege von einer neuen Bundesregierung tatsächlich so hoch auf die Agenda gesetzt wird, wie es die Kanzlerin und ihr Herausforderer versprechen: "Darauf würde ich nicht wetten."
SPIEGEL ONLINE: SPD-Kandidat Martin Schulz verspricht einen "Neustart in der Pflegestruktur", CDU-Kanzlerin Angela Merkel spricht von einer "großen Herausforderung". Wie groß ist der Notstand in der Pflege wirklich?
Sell: Das kommt darauf an, was Sie mit "die Pflege" meinen - die Altenpflege oder die Pflege in den Krankenhäusern? Das sind zwei sehr unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Strukturen und Problemen. Missstände gibt es zwar in beiden, aber in der Altenpflege laufen wir auf eine regelrechte Katastrophe zu: Bereits jetzt meldet die Bundesagentur für Arbeit einen flächendeckenden Mangel an Fachkräften. In Bremen - und nicht nur dort - dürfen einige Pflegeheime keine neuen Bewohner aufnehmen, weil sie nicht genügend Fachkräfte haben.
SPIEGEL ONLINE: Wieso ist die Situation in der Altenpflege noch kritischer als bei der Krankenpflege?
Sell: Altenpfleger verdienen im Schnitt bis zu 30 Prozent weniger als Krankenpfleger. Ein examinierter Altenpfleger - also eine versierte Fachkraft mit einer Ausbildung von mindestens drei Jahren - bekommt nur unbedeutend mehr als ein Helfer in der Krankenpflege, dessen Ausbildung ein bis zwei Jahre dauert. Diese Lohnlücke zwischen Alten- und Krankenpflege muss dringend geschlossen werden.
SPIEGEL ONLINE: SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert genau das: ein Lohnplus in der Altenpflege von 30 Prozent. Dafür soll der Beitragssatz zur Pflegeversicherung um einen halben Prozentpunkt steigen. Reicht das?
Sell: Ein halber Prozentpunkt klingt nach wenig, bedeutet in absoluten Zahlen aber Mehreinnahmen von 7,2 Milliarden Euro im Jahr - allein für die absolut dringendste Maßnahme. Für eine gute Pflege in beiden Bereichen werden wir insgesamt noch sehr viel mehr Geld zusätzlich ausgeben müssen. Immerhin stimmt die Finanzierungsrechnung für diese erste Maßnahme: Gesundheitsökonomen haben die Kosten für gleiche Löhne in Alten- und Krankenpflege mit 5,9 Milliarden Euro berechnet. Aber das Geld muss auch bei den Altenpflegern ankommen. Das wird absehbar nicht geschehen, wenn man sich darauf beschränkt, nur mehr Geld ins System zu geben.
SPIEGEL ONLINE: Weil die Heimbetreiber das Geld in die eigene Tasche stecken würden?
Sell: Tatsächlich werden fast die Hälfte der Heime von privatgewerblichen Trägern betrieben - also von Unternehmen, deren Zweck es ist, Gewinn zu machen. Es wäre aber falsch, die Schuld allein bei ihnen zu suchen: Sie müssen betriebswirtschaftlich denken, das hat der Gesetzgeber bewusst so entschieden. Wenn man aber ein derart sensibles Gut wie die Altenpflege schon den Kräften des Marktes öffnet, muss man die Rahmenbedingungen so setzen, dass weder die Bewohner noch die Mitarbeiter darunter leiden. Und hier liegt einiges im Argen.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Sell: Es gibt in der Altenpflege keine gesetzlich verbindlichen Personalschlüssel, sondern ein indirektes System: Abhängig vom Pflegegrad der Bewohner wird der Personalbedarf berechnet, wobei sich das von Bundesland zu Bundesland unterscheidet. Für den höchsten Grad 5 gilt derzeit zum Beispiel in Bayern ein Richtwert von 1,79 Pflegekräften pro Bewohner. Auf dieser Grundlage bekommen die Heime dann Geld von der Pflegeversicherung. In der Theorie funktioniert das, in der Praxis produzieren Sie damit aber strukturell einen Personalmangel.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommt das?
Sell: Angenommen, Sie betreiben ein Pflegeheim mit 50 Plätzen, sind voll belegt und haben ausschließlich Bewohner im höchsten Pflegegrad. Wenn Sie nun entsprechend dem Schlüssel Pflegekräfte fest anstellen, kommen Sie schnell in ein Dilemma: sobald nämlich einige ihrer Bewohner mit dem höchsten Pflegegrad versterben und die Bewohner, die Sie neu aufnehmen, niedrigere Pflegegrade haben. Für die bekommen Sie natürlich weniger Geld aus der Pflegeversicherung - auf ihrer Gehaltsliste stehen aber immer noch so viele Pflegekräfte wie zuvor. Aus diesem Grund kalkulieren die allermeisten Betreiber ihr Personal unter dem eigentlichen Bedarf.
SPIEGEL ONLINE: Sie plädieren also für verbindliche Personalschlüssel, wie ihn jetzt sowohl Kanzlerin Merkel als auch Herausforderer Schulz ins Spiel bringen?
Sell: Ja, umso mehr, als die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist: Sie trägt ja nur einen Teil der Kosten, den anderen müssen die Bewohner und ihre Angehörigen selbst bezahlen - oder die Sozialämter. Ohne verbindliche Personalschlüssel ist die Versuchung für Betreiber groß, das zusätzliche Geld aus der Pflegeversicherung zum Beispiel dazu zu verwenden, die Eigenbeteiligung zu senken und sich so einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Selbstverständlich müsste nicht nur ein allgemeiner und verbindlicher Personalschlüssel eingeführt werden. Auch die derzeitige Fachkraftquote von 50 Prozent darf auf keinen Fall abgesenkt werden, wie das die privaten Heimbetreiber gerade fordern. Und selbstverständlich müsste den Betreibern zugestanden werden, ihr Personal auch dann halten zu können, wenn sich die Bewohnerstruktur wie im eben beschriebenen Szenario ändert. Sonst sparen sie nämlich an anderer Stelle zum Nachteil von Bewohnern und Mitarbeitern.
SPIEGEL ONLINE: Steigen bei einem verbindlichen Personalschlüssel automatisch die Löhne in der Altenpflege?
Sell: Das bleibt abzuwarten. In jedem Fall würde der Bedarf an Altenpflegern noch einmal steigen - und zumindest in der ökonomischen Theorie müssten die Heimbetreiber ordentlich mehr Geld bieten, um überhaupt Personal zu bekommen. Allerdings besteht in der Altenpflege ein starkes Kräftegefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen werden viele Heime von kirchlichen Trägern betrieben - und nach wie vor wird ihren Angestellten das fundamentale Recht zum Streik verwehrt. Und wo das nicht der Fall ist, sind zum anderen nur sehr wenige Pflegekräfte in einer Gewerkschaft, die gute Flächentarifverträge durchsetzen könnte. Man kann den Pflegekräften nur raten: Organisiert euch!
SPIEGEL ONLINE: Wenn es ohnehin bereits einen Fachkräftemangel gibt: Woher sollen die zusätzlich benötigten Altenpfleger denn kommen?
Sell: Die Lage ist tatsächlich schwierig, aber es gibt durchaus Potenzial: So steigt die Zahl derer, die eine Ausbildung absolvieren, auch weil einige Länder hier jüngst investiert und die Bedingungen verbessert haben - obwohl die Löhne so niedrig sind. Bei einem erheblichen Lohnplus dürften sich noch mehr Menschen für eine Ausbildung entscheiden. Außerdem arbeiten viele Pflegekräfte in Teilzeit, einige von ihnen könnten durch Anreize dazu gebracht werden, ihre Arbeitszeit zu verlängern. Viele Fachkräfte in der Altenpflege werden zudem durch eine qualifizierte Umschulung älterer Menschen gewonnen, das kann man weiter ausbauen. Und wenn das Berufsbild endlich aufgewertet wird, dann steigt auch die Ausbildungsnachfrage.